Tarifeingriff in der Schweizer Physiotherapie: Was steckt dahinter?
In diesem Meinungsbeitrag fasst Akina Co-Founder und CEO Dr. Florian Haufe zusammen, was der vom Bundesrat geplante Tarifeingriff für Physiotherapeut*innen in der Schweiz bedeutet.
Ein Überblick zum Tarifeingriff
Seit mehr als 20 Jahren wird die Physiotherapie nach dem strukturell gleichen Tarif vergütet. Im August 2023 hat der Bundesrat nun angekündigt, einen Tarifeingriff vorzunehmen, und diesen in einem Faktenblatt vorgestellt.
Der Tarifeingriff erfolgt als direkte Festlegung und ohne die Mitarbeit der normalerweise involvierten Tarifparteien; deswegen ein “Eingriff” und keine Verhandlung. Solche Eingriffe sind gesetzlich vorgesehen, wenn die Tarifparteien - in diesem Fall die Vertreter der Krankenkassen und der Physiotherapie - keine Einigung erzielen können. Der Bundesrat sieht diese Situation nun als gegeben an.
Die Festlegung des Bundesrats sieht vor, dass neu sämtliche Behandlungen zeitgebunden wären, aufgeteilt in verschiedene Kategorien von 20 bis 75 Minuten Dauer. Derzeit liegt die Entscheidung, wie lange eine Behandlung innerhalb einer Pauschale dauert, im Ermessen der behandelnden Physiotherapeut*in.
Der Bundesrat hat zwei verschiedene Varianten zur Umsetzung dieser Anpassung vorgeschlagen. Diese unterscheiden sich aber nur in der Stückelung der zulässigen Behandlungsdauer. In Variante 1 sind Behandlungen von 20, 30 und 45 Minuten Dauer vorgesehen. Variante 2 sieht eine Grundpauschale für die ersten 20 Minuten vor, und anschliessend eine Abrechnung der effektiven Behandlungsdauer in Blöcken von fünf Minuten.
Zusätzlich soll die Möglichkeit, die sogenannte “aufwändige Physiotherapie” (Tarifposition 7311) abzurechnen, eingeschränkt werden. Neben dem Vorliegen eines gelisteten Krankheitsbildes soll in Zukunft auch gezeigt werden müssen, dass die Behandlung tatsächlich erschwert war.
Ist der Tarifeingriff zielführend?
Aus dem Faktenblatt geht hervor, dass der Bundesrat die Qualität der Behandlungen und die Kostenkontrolle verbessern möchte. Diese Ziele sind zunächst einleuchtend und nachvollziehbar. Allerdings: Es ist mehr als fragwürdig, ob der vorgesehene Tarifeingriff geeignet ist, diese Ziele zu erreichen.
Der Bundesrat macht die Qualität einer Behandlung hauptsächlich an ihrer Dauer fest. Nur so lässt sich erklären, warum mit dem erklärten Ziel der Qualitätssicherung ausschliesslich die Vorgaben zur Dauer angepasst werden.
Keinerlei Bedeutung wird etwa der konkreten Art der Therapie beigemessen. So wird die Fango-Packung, deren Wirksamkeit nicht belegt werden kann, genauso vergütet wie die evidenzbasierte, aktive Bewegungstherapie. Letztere erfordert übrigens auch wesentlich teurere Infrastruktur, die bei der Vergütung aber keine Rolle spielt - man denke an Praxisfläche und moderne Trainingsgeräte.
Zudem wird auch ignoriert, dass ein zentraler Wirkmechanismus der Physiotherapie die Anleitung von gesundheitswirksamen Verhalten im Alltag ist. Ob die persönliche Sitzung dann 20, 25 oder 30 Minuten dauert, ist nebensächlich, wenn es gelingt, die Patient*innen für die restlichen 6’700 wachen Minuten pro Woche kompetent anzuleiten und zu motivieren.
In diesem Zusammenhang verpasst es der Tarifeingriff auch, den Ausbildungsstand der behandelnden Therapeut*in zu berücksichtigen. Dies widerspricht der politisch gewollten Akademisierung der Physiotherapie. Wenn die Behandlung durch Physiotherapeut*innen mit BSc FH, MSc FH und Zertifikaten wie dem “Swiss Advanced Physiotherapy Practitioner” genau gleich vergütet wird, bedeutet das schlussendlich, dass der Bundesrat keinen medizinischen Wert in der Weiterbildung sieht. So möchte das aber natürlich niemand ausdrücken.
Neben der Qualität soll die Vorgabe der Behandlungsdauer auch die Kostenkontrolle verbessern. Als “Kosten” bezeichnet der Bundesrat die unmittelbaren Ausgaben für die physiotherapeutische Behandlung. Eine gesamtheitliche und damit aussagekräftige Beurteilung der Kosten der Physiotherapie muss aber ebenfalls indirekte Kostenfolgen berücksichtigen. Wie verändern sich etwa die Kosten für ambulante Facharztkonsultationen, für bildgebende Diagnostik, oder für Spitalaufenthalte, Operationen oder Krankentaggeld über die 12 Monate nach der Therapie? Die Summe der Kostenfolgen - direkte und indirekte - gilt es zu betrachten, um die Gesundheitskosten in der Schweiz effektiv zu kontrollieren.
Der reine Fokus auf den Anstieg der direkten Kosten für die Physiotherapie offenbart weiterhin, dass physiotherapeutische Behandlung stillschweigend als nicht kosteneffizient betrachtet wird. Es sollen kurzfristig Ausgaben gekürzt werden; die langfristigen Kostenfolgen für das Gesundheitssystem werden durch den Tarifeingriff nicht betrachtet und wahrscheinlich auch nicht gesenkt.
Insgesamt zeigt der Tarifeingriff ein veraltetes Verständnis der Physiotherapie, das mit der gelebten Praxis der führenden Anbieter in der Schweiz wenig zu tun hat. Das Bild von Physiotherapie als Mischung aus Massage, esoterischer Methodik und warmer Schlammpackung hat ausgedient und wird den Schweizer Physiotherapeut*innen nicht gerecht.
Es wäre deshalb äusserst bedauerlich, wenn mit dem aktuellen Tarifeingriff eine überholte Tarifstruktur zementiert wird, die evidenzbasierte und kompetente Behandlung nicht honoriert.